»Vor dem Endspiel«

INTERVIEW | Kenneth Rogoff Die ausufernde Schuldenlast ist schon

jetzt das größte Problem der Weltwirtschaft. Doch der Harvard-

Professor warnt: Die Staatspleiten kommen erst noch.

Herr Rogoff, im August 2008 sagten Sie

in einer Rede in Singapur, dass in den

nächsten Monaten eine sehr große Bank

oder Investmentbank untergehen würde.

Nach dieser Aussage versteckten Sie sich

– und weniger als vier Wochen später

ging Lehman Brothers pleite.

Rogoff: Diese Aussage wurde rund um

die Welt groß gebracht, alle Medien woll-

ten Interviews. Doch ich wollte keine Na-

men nennen, obwohl ich natürlich an

Lehman dachte. Ich will Finanzkrisen

analysieren und sie nicht auslösen. Da

ich wusste, dass die Medien einen Namen

wollten, ließ ich sämtliche Anfragen un-

beantwortet.

Als Ökonom haben Sie sich den Schul-

denkrisen verschrieben. Wie kamen Sie

auf die Idee zu "This Time is Different"?

Rogoff: Beim IWF hatten wir ein Papier er-

stellt, in dem wir Staatsbankrotte durch

Überschuldung über einen Zeitraum von

800 Jahren analysierten. Schon damals

stellten wir fest, dass diese Bankrotte viel

häufiger vorkommen, als die meisten Leu-

te dachten. Wir fanden heraus, dass Spa-

nien allein im 19. Jahrhundert siebenmal

in Konkurs ging, auch Deutschland wurde

mehrere Male getroffen. Bis zum Zweiten

Weltkrieg waren diese Staatsbankrotte

sehr häufig. Sie passierten alle 60 bis 80

Jahre. Dass sie also jetzt so lange nicht

mehr stattgefunden haben, will nichts hei-

ßen. Die Asiaten dachten auch, sie hätten

nie eine Finanzkrise gehabt. Wir zeigten

ihnen, dass das nicht stimmt.

War die Finanzkrise die schlimmste

Verschuldungskrise aller Zeiten?

Geld&Börse

Rogoff: Oh nein. Die Große Depression in

den Dreißigerjahren war viel schlimmer.

Das Erstaunliche an der Finanzkrise war

ihre Normalität: Zusammenbruch des Im-

mobilienmarkts, Einbruch der Aktienkur-

se, steigende Arbeitslosigkeit, starke Zu-

nahme der Verschuldung. Typisch war

auch, dass vorher jeder sagte, dieses Mal

gebe es keine Probleme. Daher der iro-

nische Titel des Buchs "This Time Is Diffe-

rent". Länder, Institutionen und Finanz-

instrumente mögen sich über 800 Jahre

geändert haben, die menschliche Natur

aber nicht. Wir haben schon 2007 fest-

gestellt, dass alle Indikatoren auf eine gro-

ße Krise hinwiesen, und davor gewarnt.

Ist die Entwicklung bis heute typisch?

Rogoff: Alles verläuft weiterhin sehr ty-

pisch. Für die Epizentrum-Länder der Kri-

se geht die Erholung sehr langsam, das ist

die Norm bei einer derartigen Krise.

Vielen Ökonomen geht die Erholung zu

langsam.

Rogoff: Es gibt alle diese Analysten in den

Notenbanken und Investmenthäusern,

doch sie analysieren nur die Daten der

letzten 30 Jahre. In dieser Zeit haben wir

aber keine vergleichbare Finanzkrise ge-

habt. Nehmen wir die Arbeitslosenrate,

die vielen Kommentatoren als zu hoch er-

scheint. In einer typischen Krise dieser Art

steigt sie um sieben Prozentpunkte, über

einen Zeitraum von viereinhalb Jahren.

Wenn wir Ende 2007 – mit einer Rate von

vier Prozent – als Startpunkt nehmen,

würden wir Mitte 2012 den Tiefpunkt von

elf Prozent erreichen.

Laut den letzten Arbeitsmarktdaten liegt

die Rate in den USA derzeit bei 9,1 Pro-

zent, und schon diesen Wert empfindet

Amerika als Katastrophe.

Rogoff: Er liegt aber voll im Zeitplan – und

es wird noch schlimmer.

Ist die Verschuldung das größte Problem

der amerikanischen Wirtschaft?

Rogoff: Nicht nur der amerikanischen,

sondern der Weltwirtschaft. Die Staats-

schulden haben in den meisten Industrie-

ländern Rekordhöhen erreicht. Zusätzlich

gibt es die Verschuldungen der Haushalte,

die laut den – leider schlechten – verfügba-

ren Daten auch auf Rekordhöhen sind.

Und dann gibt es noch die gigantischen

Verpflichtungen der Rentenkassen, die

viel zu wenig beachtet werden.

Das Problem ist, dass Bürger, solange der

Staat nicht in Konkurs geht, unter der

hohen Staatsschuld scheinbar nicht leiden.

Rogoff: Unsere Analysen haben ergeben,

dass in Industriestaaten ab einer Ver- »

 

DER KRISENVERSTEHER

Rogoff, 58, ist Ökonomieprofessor in Har-

vard. Zusammen mit seiner Kollegin Carmen

Reinhart verfasste er den 2009 erschienenen

Bestseller "This Time is Different", der erst-

mals systematisch die Schuldenkrisen der

letzten 800 Jahre untersuchte. Davor lehrte

er in Princeton und war Chefökonom des

Internationalen Währungsfonds (IWF). Bis

Ende der Siebzigerjahre behauptete er sich

unter den führenden US-Schachspielern.

 

 

» schuldung von 90 Prozent des Brutto-

inlandsprodukts das Wachstum leidet, in

Schwellenländern liegt die Grenze bei 60

Prozent. Viel höhere Schuldenstände läh-

men Volkswirtschaften geradezu und sind

deshalb sehr selten.

Demnach kostet die Verschuldung die

Wirtschaft Wachstum und viele Arbeits-

plätze: Die US-Staatsschuld nähert sich

dem Nachkriegshöchststand von 120

Prozent und liegt derzeit bei fast 15 000

Milliarden Dollar. Wenn das Parlament

die Obergrenze nicht bis zum 2.August

anhebt, gehen die USA in Konkurs.

Rogoff: Es ist höchst unwahrscheinlich,

dass wir wirklich in Konkurs gehen. So

dumm sind wir nicht. Doch es besteht die

Gefahr, dass die Märkte amerikanische

Schulden für die nächsten 30 Jahre leicht

tiefer bewerten, weil sie fürchten, die

Schulden könnten einmal im Jahr für ei-

nen Monat illiquide werden. Wenn das

Zinsniveau dadurch nur ein Zehntel eines

Prozentpunkts steigt, würde man das

kaum bemerken. Aber wenn man 15 000

Milliarden schuldet, dann sind das 15 Mil-

liarden Dollar pro Jahr. Wenn wir dadurch

nur eine leichte Steigerung der Risikoprä-

mie bewirken, müssen wir mehr bezahlen,

als uns die Budgetkürzungen bringen.

Einen Staatsbankrott hat die Krise aber

noch nicht hervorgebracht.

Rogoff: Wir werden über die nächsten Jah-

re viele Staatsbankrotte in Europa sehen.

Es gibt alle diese Länder, die unter dem

Strich noch immer Geld beziehen. Selbst

Griechenland bezieht noch immer Geld.

Es hat auch in diesem Jahr ein Defizit, es

gibt also mehr aus, als es einnimmt. Und

die Leistungsbilanz existiert weiter, das

Land leiht sich also Geld. Solange ein Staat

mehr bezieht, als er einnimmt, kann er

nicht pleitegehen. Rumänien, Ungarn, die

Ukraine und die baltischen Staaten bezie-

hen alle Geld. Mehrere von ihnen werden

umschulden müssen, weil das Wachstum

nicht stark genug ist. Wer die Finanzkrise

für beendet erklärt, ist verrückt.

Wie steht es mit den Euro-Sorgenkindern

Portugal, Irland und Griechenland?

Rogoff: Alle drei werden auf jeden Fall um-

schulden müssen, aber dabei bleibt es

nicht. Ein halbes bis ein Dutzend Länder

wird betroffen sein. Die Wahrheit wird erst

ans Licht kommen, wenn sie wirklich ihre

Schulden zurückzahlen müssen.

Was bedeutet das für den Euro?

Rogoff: Er wird bleiben, doch ich kann mir

nicht vorstellen, dass es für Portugal, Ir-

land und besonders Griechenland nicht

zumindest ein Sabbatical vom Euro geben

wird. Der intelligente Plan wäre, diesen

Ländern Ferien vom Euro zu geben.

Die Europäische Zentralbank befürchtet

dann ein Chaos an den Finanzmärkten.

Rogoff: Was immer passiert – die Deut-

schen als stärkster Geldgeber der Euro-Zo-

ne müssen in jedem Fall dafür geradeste-

hen. Das realistische Szenario wäre, Portu-

gal, Irland und Griechenland zu restruktu-

rieren und dann klar bei Italien und Spa-

nien zu stoppen. Diese Linie muss man

ziehen, damit es zu keiner Panik kommt.

Die Deutschen müssten die Schulden der

spanischen Regierung garantieren. Das

wäre machbar und hat in Lateinamerika in

ähnlicher Form funktioniert.

Aber warum tun die Europäer das nicht?

Rogoff: Weil die Europäische Union dazu

nicht die Verfassungsmacht hat. Sie

braucht einstimmige Entscheidungen der

17 Euro-Länder, manchmal sogar aller 26

EU-Staaten. Wenn Griechenland, Finnland

oder Portugal dagegen sind, ist ein solches

Vorgehen unmöglich. Die Europäer haben

die Ressourcen, das Problem ist lösbar,

aber sie sind gelähmt. Europa hat eine Ver-

fassungskrise,und deshalb ist Europaunfä-

hig, harte Entscheidungen zu fällen.

Also passiert nichts?

Rogoff: Sie warten wohl einfach, bis sich

die Ereignisse verschlimmern. Es wird

schließlich Bank-Runs in diesen Ländern

geben. Wer will denn seine Spargelder in

griechischen Banken halten, wenn er sie

in deutschen Banken anlegen kann?

Bislang hörte man davon wenig.

Rogoff: Es gibt bisher keine Kapitalkon-

trollen in Europa, und es gibt viel Geld, das

abwandern könnte. Ich kenne Schach-

spieler aus Portugal, Griechenland oder

Spanien, hochintelligente Menschen, die

viel reisen. Aber bisher sind sie noch nicht

so weit, ihre Lebensersparnisse ins Aus-

land zu transferieren. Das wird so kom-

men, wenn das Vertrauen in die lokalen

Banken verloren geht.

Was heißt das für den Euro?

Rogoff: Es würde mich nicht überraschen,

wenn der Euro vor dem Endspiel stark

sänke. Angesichts der fundamentalen Kri-

se scheint mir der Euro immer noch sehr

hoch bewertet.

Vor allem im Vergleich zum Dollar?

Rogoff: Inflationsbereinigt ist der Dollar

gerade auf das tiefste Niveau seit 1973 ge-

fallen. Die Märkte haben große Angst we-

gen des gigantischen Geldmengenwachs-

tums und fürchten eine riesige Inflation.

Wenn die Europäer sich nicht selbst

retten können, bleibt nur Ihr früherer

Arbeitgeber, der IWF. Schafft er das?

Rogoff: Der IWF hat sich zuletzt vor allem

als Geldgeber für Europa verstanden. Er

hat den Europäern zehnmal so viel Geld

gegeben wie Lateinamerika oder Asien.

Doch dabei hat er den Fehler begangen,

das Geld einfach nur zu verteilen. Die Frist

für die Rückzahlungen wurde von drei auf

fünf Jahre verlängert. Da wird es viel Un-

mut gegenüber dem IWF geben, wenn die

Fristen für viele Länder ablaufen. Doch

der IWF hat keine Wahl. Wir könnten in

fünf oder zehn Jahren eine Finanzkrise in

China oder Japan haben. Europa kann das

Geld nicht für immer behalten.

Derzeit wirkt der IWF gelähmt.

Rogoff: Er ist gelähmt und deshalb sehr

nett. Das ist nicht gut. Er muss mit Europa

hart sein und braucht eine eiserne Hand.

Sonst wird die europäische Krise eine glo-

bale Krise. Das ist meine große Sorge. ■

dirk schütz | Bilanz, geld@wiwo.de

»Wer will Spargeld

in Athen halten,

wenn er es bei

deutschen Banken

anlegen kann?«