Norbert Bolz: Bei "sozialer Gerechtigkeit" fallen alle in Trance

5.01.2009

Norbert Bolz

In der Tat! Eben gerade heute fordert die SPD wieder soziale Gerechtigkeit ein. Den sogenannten Reichen sollen in der Finanzkrise die Steuern erhöht und den "Geringverdienern" Sozialabgaben erlassen werden. Hier ein schöner, treffender Essay von Norbert Bolz, den ich bereits 2007 verlinkt hatte und bei dem jeder Satz unterstrichen werden sollte. Nachdem manche (nicht alle) Leser immer wieder dasselbe wiederholen, mach’ ich das jetzt auch, wiederhole aber etwas Intelligentes. Nach über 4500 Beiträgen kommt in diesem Blog die Zeit des Recyclings. In der Presse ist es ja nicht anders:

Norbert Bolz - Die Theologie des Sozialen

Dekadenz heißt politisch: die soziale Frage. Genauso wie sich die Heuchelei des 19. Jahrhunderts um das Sexuelle drehte, dreht sich die Heuchelei seit dem 20. Jahrhundert um das Soziale. Es ist das Gott-Wort unserer Epoche. Man muß heute nur die Zauberworte »Selbstverwirklichung« und »soziale Gerechtigkeit« aussprechen, um die Massendemokratie in politische Trance zu versetzen und alle Widerworte zum Schweigen zu bringen. »Das Ich und das Soziale sind die beiden Götzen«, hat Simone Weil einmal gesagt – ein Urteil von unglaublicher Hellsichtigkeit und Aktualität.

Unsere Ehrfurchtssperre vor dem Begriff »soziale Gerechtigkeit« ist heute so mächtig, daß man schon zu theologischen Begriffen greifen muß, um sie zu analysieren. Die Religion der sozialen Gerechtigkeit herrscht uneingeschränkt über die Seelen der Letzten Menschen, die längst den Weg vom Seelenheil zum Sozialheil zurückgelegt haben. In der massendemokratischen Religion des Letzten Menschen erweist sich das Soziale als das Pastorale. Und »Reaktionär« heißt nun jeder, der nicht zur Glaubensgemeinschaft der Sozialreligion gehört. Den ersten entscheidenden Schritt zur Vergötzung des Sozialen verdanken wir dem Marxismus und seiner »Religion der Arbeit« (Paul Lafargue). Man muß sich immer wieder vor Augen halten, daß die moderne Verklärung der Arbeit alles andere als eine kulturelle Selbstverständlichkeit ist. Nicht nur für die Antike war die Verachtung der Arbeit selbstverständlich. Seit 1848 aber gibt es den heiligen Arbeiter – heute ist es nicht mehr der Kumpel aus dem Ruhrpott, sondern die Krankenschwester.

Der Schritt von der Religion der Arbeit zur Vergötzung des Sozialen ist dann ganz klein. Es genügt als zusätzliches Element der Kult des Kollektivs – zu deutsch: Die Arbeit tun die anderen. Wer heute einen Job sucht, muß vor allem den Eindruck erwecken, »teamfähig« zu sein. Und Schülern bringt man im »sozialen Lernen« bei, daß Gruppenarbeit die einzige Lebensform des guten Menschen ist. Kommunikationstraining statt Mathematik!

Teamwork ist ein Euphemismus dafür, daß die anderen die Arbeit tun. Hannah Arendt hatte den fabelhaften Mut, diese Wahrheit ganz unzweideutig auszusprechen: »There can be hardly anything more alien or even more destructive to workmanship than teamwork«. Die Gruppe ist die Gehirnwäsche, und es ist völlig gleichgültig, ob es sich dabei um Gruppentherapie, Teamtraining oder soziales Lernen handelt – stets geht es um die Austreibung von Individualität und Wettbewerb. Doch das darf man nicht laut sagen. Denn für die Religion des Letzten Menschen gibt es nichts Schlimmeres als die Sünde wider den heiligen Teamgeist.

Gerade haben wir Dekadenz politisch spezifiziert, nämlich als die soziale Frage. Sie definiert heute so ausschließlich das Politische, daß der Politiker seinen Willen zur Macht als Fürsorglichkeit verkaufen muß. Neu ist das nicht, und die Geschichte des Despotismus lehrt uns: Wer sagt, er wolle dem Volke dienen, will sich des Volkes bedienen. Aldous Huxleys Einsicht, daß Wohlfahrt Tyrannei ist, bewährt sich heute an der politischen Rhetorik sozialer Probleme, die uns versklavt. Gerecht zu scheinen, ohne es zu sein, ist jene höchste Ungerechtigkeit, die man »soziale Gerechtigkeit« nennt.

Das Problem liegt nicht darin, daß man – um die Lieblingsmetapher der Sozialreligion zu zitieren – »die starken Schultern« immer stärker belastet. Vielmehr sind die Begünstigten der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen deren eigentliche Opfer. Denn soziale Gerechtigkeit qua Umverteilung sorgt für die politische Stabilisierung der Unmündigkeit; Sozialpsychologen nennen das »learned helplessness«. Die Massenmedien besorgen dann den Rest: Man lernt, sich hilflos zu fühlen, wenn man andere beobachtet, die unkontrollierbaren Ereignissen ausgesetzt sind – zum Beispiel Naturkatastrophen. Massenmedien exponieren uns täglich der Unkontrollierbarkeit.

Und so sehnt man sich nach dem schützenden Vater, der in der vaterlosen Gesellschaft natürlich nur noch der Staat sein kann. Überall in der westlichen Welt steht die politische Linke heute für den Sozialstaatskonservativismus. Und überall wo der Sozialismus real existiert, programmiert er die Gleichheit der Unfreien. Als Wohlfahrtsstaat besteuert er den Erfolg und subventioniert das Ressentiment. Und gerade für die Propaganda der sozialen Gerechtigkeit gilt das Grundkalkül des Ressentiments: Wie groß darf meine Aggression sein, damit sie keine Vergeltung auslöst?

Der paternalistische Staat ist der Hintergrund aller modernen »Emanzipationen«. Wir haben es also mit einer handfesten Paradoxie zu tun: In den Befreiungen bekundet sich die Liebe zur Sklaverei. Auch als er noch nicht so hieß, hat der »vorsorgende Sozialstaat« die neuen Untertanen gezüchtet: die betreuten Menschen. Man bekommt diese bittere Wirklichkeit gut in den Blick, wenn man sich der Schelskyschen Unterscheidung selbständig versus betreut bedient. Natürlich weigern sich die Betreuten genauso wie die Betreuer, ihre Wirklichkeit mit dieser Unterscheidung zu beobachten; aber nur mit ihr kann man jene Paradoxie der Befreiung aus Liebe zur Sklaverei entfalten. Die Gleichheit der Unfreien gewährt Sicherheit. Doch Sicherheit verdanken die meisten heute nicht mehr dem Gesetz, sondern der staatlichen Fürsorge. Im »vorsorgenden Sozialstaat« schließlich wird die Daseinsfürsorge präventiv: Es wird geholfen, obwohl es noch gar keinen Bedarf gibt. Konkret funktioniert das so, daß die Betreuer den Fürsorgebedarf durch »deficit labeling« erzeugen. Der Wohlfahrtsstaat fördert also nicht die Bedürftigen, sondern die Sozialarbeiter.

Mit beißender Ironie hat Rüdiger Altmann den Kernbestand jeder Theologie des Sozialen als das Recht auf Abhängigkeit definiert. Die Tyrannei der Wohltaten erzeugt jene Sklavenmentalität, die wir gerade als »learned helplessness« charakterisiert haben. Und wenn wir diesen Sachverhalt in politischer Perspektive beschreiben, kommen wir zu dem schmerzlichen Resultat: Der Paternalismus des »vorsorgenden Sozialstaates« ist Despotismus.

Wer diese Formulierung für maßlos überzogen hält, wird vielleicht umdenken, wenn er erfährt, daß sie von Kant stammt. In seinem Aufsatz Über den Gemeinspruch, das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis heißt es:

»Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus«.

Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündigkeit, also jenen Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung kämpft. Und so wie es des Mutes bedarf, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so bedarf es des Stolzes, um das eigene Leben selbständig zu leben. Wie für das Mittelalter ist deshalb auch für den Wohlfahrtsstaat der persönliche Stolz die größte Sünde. Denn das Projekt der Moderne war genau in dem Maße erfolgreich, wie es das Hobbes-Projekt war, den Stolz durch die Angst zu ersetzen – der Leviathan ist der »King of the Proud«.

Vater Staat will nicht, daß seine Kinder erwachsen werden. Und auch diejenigen, die ihr Leben weitgehend unabhängig von staatlicher Betreuung gestalten, bleiben oft genug politische Kinder. Früher war man als Jugendlicher rot und ist dann nachgedunkelt. Heute bleibt man grün, auch wenn man längst grau geworden ist. Man wird nicht mehr erwachsen. Und für dieses kulturkritische Urteil gibt es durchaus Kriterien. Erwachsen ist man, wenn man aufgehört hat, sich die Zukunft als Glück (oder Unglück) auszumalen. Oder anders gesagt: Erwachsenwerden heißt Teleologie durch Evolution zu ersetzen.

Was erwachsen sein bedeutet, hat man früher an Charakteren der Männlichkeit abgelesen. Aber schon bei Max Weber wird der Begriff der »Manneswürde« nur noch trotzig dem Zeitgeist entgegengeschleudert. Männlich heißt hier trostunbedürftig. Das geht auf eine Tradition zurück, in der Weisheit und Männlichkeit zusammengehörten – Philosophie war nicht erbaulich. Diese Tradition endet aber schon mit Nietzsche, der für die Männlichkeit ein letztes Asyl in der Redlichkeit fand. Das Bewußtsein dafür, daß hier ein Kulturproblem ersten Ranges vorliegt, ist heute verschwunden. Und die Unduldsamkeit, mit dem aktuelle Diskurse alleine schon auf das Wort "Männlichkeit" reagieren, deutet auf ein mächtiges Tabu…

Dies ist ein Auszug aus einem Artikel im Merkur, August 2007. Merkur-Texte sind meist nur acht Wochen online. Ich habe versäumt, ihn damals zu sichern. Das ganze Heft ist aber noch zu kaufen und eines der besten Merkur-Hefte überhaupt! Bolz gab neulich ein Interview im FOCUS!